Ein Rückblick von Heiner R. Schmid
»Wochenblatt«-Bilder gehen um die Welt

Günter Sonnenberg wird gleich auf der Bahre abtransportiert. Das ist ein Bild mit Symbolcharakter im Jahr 1977, denn erstmals sieht man, dass der Terrorismus in diesem Land nicht obsiegen wird. Dahinter liegt Verena Becker schmerzverzerrt am Boden.
 | Foto: swb-Bild: Heiner R. Schmid
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  • Günter Sonnenberg wird gleich auf der Bahre abtransportiert. Das ist ein Bild mit Symbolcharakter im Jahr 1977, denn erstmals sieht man, dass der Terrorismus in diesem Land nicht obsiegen wird. Dahinter liegt Verena Becker schmerzverzerrt am Boden.
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Ein Nachruf auf Heiner R. Schmid, der am 17. Januar 2023 verstorben ist. Er war der erste Redaktionsleiter des damals noch jungen Verlags Singener Wochenblatt von 1975 bis 1985 und baute ein redaktionelles Profil für die Wochenzeitung auf, das einer wichtige Grundlage für den großen Erfolg als regionales Medium war und im redaktionellen Anspruch profundem Lokaljournalismus für die LeserInnen bis heute nachwirkt.
Und diese Story aus dem Mai 1977, der Zeit vor dem "Deutschen Herbst" hatte ihn und das Wochenblatt berühmt gemacht, weit über diese Zeit heraus:

Als eine Flucht auf einem Acker in Singen endete:

Auf der Flucht vor Zeitungsleuten sind üblicherweise Prominente. Als überhaupt nicht prominenter Redakteur des Singener Wochenblatts war ich auch einmal auf der Flucht vor Kollegen: am 10. Mai 1977. Dabei hatte der Tag prima angefangen. Fahrt über die frühlingsfrische Höri ins Büro gegen 8.30 Uhr. Ein wunderschöner Tag zog herauf. Leichter Frühnebel ließ einen Pracht-Tag erwarten. Entsprechend frohgestimmt das Platznehmen am Redaktions-Schreibtisch in der Scheffelstraße 12 a. Damals residierten Verwaltung und Redaktion des Wochenblatts noch hier im zweiten Obergeschoß. Anzeigenannahme und Verkauf waren noch in der Ekkehardstraße 3, neben dem ehemaligen Café Schrempp.

Der 3. Mai 1977 war ein Dienstag (im Original von Heiner Schmidt von 1992 wurde von ihm selbst der 10. Mai genannt, was nicht das richtige Datum war). Das bedeutete für die Wochenblatt-Redaktion, dass die aktuelle Ausgabe in die Endphase trat.  Der Aufmacher für die Seite 1 war fertig, die Gliederung im Blatt geplant. Irgendwie schade, dass der fertige Aufmacher eine Woche später hinten in der Zeitung »verbraten« werden musste. Ich habe keine Ahnung mehr, welche großartige journalistische Leistung damals so schnöde verschleudert wurde. Aber nach dem guten Grundsatz aller Wochenzeitungen, einmal in der Woche auch aktuell sein zu können, kam eben die Aktualität der Planung in die Quere. Und zwar mit lautem Sirenengeheul.

Noch wissen die Polizeibeamten nicht, wen sie hier in Singen gestellt haben. Schon am Rathaus hatte es eine wilde Schießerei gegeben, bei der der frühere Stadtoberbaudirektor Hannes Ott Zeuge war - später auch in Stammheim. Die ganze Anspannung zeigt dieses Bild. | Foto: swb-Bild: Heiner R. Schmid
  • Noch wissen die Polizeibeamten nicht, wen sie hier in Singen gestellt haben. Schon am Rathaus hatte es eine wilde Schießerei gegeben, bei der der frühere Stadtoberbaudirektor Hannes Ott Zeuge war - später auch in Stammheim. Die ganze Anspannung zeigt dieses Bild.
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Martinshörner tobten durch die Stadt, und pflichtgemäß spitzte die Wochenblatt-Redaktion die Ohren. Weil Schnelligkeit hilfreich ist, und ein schönes Unfall-Bild gerade noch in die Wochen-Ausgabe gepasst hätte, flitzte ich los. Das ging damals in der Scheffelstraße noch ungesäumt, weil man von einer Fußgängerzone nur gerüchteweise etwas gehört hatte. So stand der knallrote Redaktionskäfer mit seiner Funkantenne auf dem Dach zum Greifen vor dem Haus. Aufgesessen und losgerast, die Hauptstraße Richtung Norden, woher der Sirenen-Krawall kam. An der Friedenslinde stand ein hilfreicher Mensch, der den Wochenblatt-Käfer kannte und Richtung Burgstraße wies. Von dort gelangte ich in die Anton-Bruckner-Straße und wusste nicht weiter. Aber an der Kreuzung Keltenstraße winkte eine Frau: Der Streifenwagen ist Richtung Aach gefahren.

Spätestens jetzt müssten alle, die schon damals das Wochenblatt gelesen haben, die Ereignisse nachvollziehen können: Der wunderschöne Frühlingstag zeigte sein hässlichstes, ein kriminelles Gesicht. Vom Feldweg aus sah ich in den Wiesen an der Aach zwei Polizeibeamte mit Waffen im Anschlag, auf dem Boden zwei offenkundig verletzte Menschen, ein Rotkreuz-Rettungsfahrzeug und Sanitäter, die sich um die Verletzten kümmerten.

Noch lag ganz leichter Dunst über der Szene, aber mit Hilfe eines hochempfindlichen Films, eines 300 mm-Teleobjektivs und einer ruhigen Hand gelang etwas, das als große journalistische Leistung und Sensation noch heute im Gedächtnis ist: Die Festnahme der Terroristen Verena Becker und Günter Sonnenberg durch Singener Polizeibeamte im Bild festzuhalten.

Stolzer Rückblick I: Mit diesen exklusiven Schnappschüssen schaffte ich das erste und einzige Mal ein Titelbild der Zeitschrift »Stern«. Stolzer Rückblick II: Die finanziellen Dimensionen der Sensation waren, vor allem mit heutigen Maßstäben bewertet, einigermaßen bescheiden. Den Scheckbuch-Journalismus gab's zwar schon - aber leider waren die Scheckbücher noch recht dünn. Und dann gab's auch noch eine Bild-Zeitung, die zwar meine Bilder druckte, sich aber auf einen obskuren Lieferanten berief und sich das Honorar sparte. Ich nenne das heute noch ab-kupfern.

Was an diesem Tag in Singen abgelaufen war, ist wohl inzwischen jedem bekannt, der sich mit der Angelegenheit befasste. Befasst haben sich auch die Kollegen der damals noch existierenden beiden Tageszeitungen. Denen war zwar in Singen und drum rum Unfähigkeit und Schnarchnasigkeit nachgesagt worden. Zu ihrer Ehrenrettung sei aber gesagt, dass sie wirklich nichts dafürkonnten. Erstens ist der Rhythmus bei einer Tageszeitung ein anderer als bei einer Wochenzeitung. Das heißt, dass der Tageszeitungs-Journalist später anfängt, weil er abends auch länger arbeitet. Zweitens steht fest, dass es an diesem 10. Mai ganz anders war. Der Kollege vom Südkurier war zu dem Zeitpunkt, als sich die Sensation auf Singens Aachwiese anbahnte, im Amtsgericht und wartete auf einen Prozess, über den er berichten sollte. Dummerweise platzte dieses Verfahren, weil der Angeklagte nicht erschien. Der Kollege vom Schwarzwälder Boten erholte sich noch von einem langdauernden Termin des Vorabends und kriegte die Geschichte erst mit halbstündiger Verspätung.

Inzwischen waren die Bilder am Tatort fotografiert. Rudolf Faulhaber, einer der beiden tapferen Polizeibeamten, denen nach heftigem Schusswechsel die Festnahme gelungen war, kam als erster auf die Idee, dass es sich bei den verletzten jungen Leuten, die im feuchten Gras lagen, um Terroristen handeln könne. Er hielt immer noch die Maschinenpistole im Anschlag - nicht die eigene, wohlgemerkt, die war leergeschossen, sondern eine von den Terroristen erbeutete.

Wir erinnern uns: Die Terroristen-Furcht hatte damals schon fast hysterische Züge angenommen. Aus dem Fernsehen wusste man, dass Großaufgebote von Spezialisten eine Käseglocke über alles und jedes stülpen würden. Daher bewährte sich der Wochenblatt-Betriebsfunk großartig: Verleger H. J. Frese fuhr in die Nordstadt und nahm die belichtete Filmrolle mit, um sie gleich entwickeln zu lassen (unter großer Geheimhaltung erledigte das Willy Albrecht im Fotohaus Ott-Albrecht persönlich). Das war eine gute Entscheidung: Die kurz danach eintreffende Singener Kripo-Mannschaft wollte als erstes beim Wochenblatt-Redakteur (»was machen Sie denn hier?«) den Film beschlagnahmen. War nichts.

Das Gelände füllte sich langsam mit immer höheren Rängen der Polizeiführung. Die Hauptpersonen waren längst im Singener Krankenhaus. Die Tageszeitungs-Kollegen waren da und fotografierten wie wild. Da entschied ich: Es ist Zeit, abzuhauen. Alle weiteren Informationen kriege ich zusammen mit allen anderen auf der Pressekonferenz, die Polizei und Bundesanwaltschaft mit Sicherheit anberaumen würde. So war's auch.

Außerdem war es Zeit, die nassen Schuhe zu wechseln. Doch dazu kam ich den ganzen Tag nicht. Selbstverständlich war uns sofort klar, dass wir hier einen journalistischen Volltreffer gelandet hatten. Entsprechend wurde noch am frühen Vormittag die Vermarktung in die Wege geleitet. Das wiederum führte zu den ganz oben beschriebenen Nachstellungen von Kollegen. Auf Ehre und Gewissen: Angeboten wurde das Material nur dem »Stern«. Woher alle anderen Wind bekamen, kann nur mit deren journalistischer Findigkeit erklärt werden. Auf jeden Fall standen die Wochenblatt-Telefone nicht still. Der »Bunte«-Repräsentant aus Offenburg kam sogar mit dem Flieger eingeschwebt.

Nicht vergessen: Es war Dienstag. Also musste zunächst das dieswöchige Wochenblatt vor-angetrieben werden, das zu dieser Zeit noch bei der dem Südkurier gehörenden Druckerei Zimmermann in Waldshut gedruckt wurde. Gleichzeitig hatten wir die Vorstellung, die Singener ganz schnell und umfassend zu in-formieren — ein »Extrablatt« musste her.

Das war kein Problem. Willy Albrecht hatte den Film ausgezeichnet behandelt. In der redaktions-eigenen Dunkelkammer wurden die ersten Abzüge gefertigt. Das Ergebnis: Besser als gedacht. Bei der Druckerei Berchtold in Singen wurde derweil alles für ein Extrablatt vorbereitet. Leider lautete das Angebot darauf, einen Restposten Papier zu bedrucken, der darum besonders preiswert war. Was wir nicht wussten: Es handelte sich um Kunstdruckpapier. Die Extrablätter waren daher von exzellenter Qualität, was die Bildwiedergabe anbelangt. Noch heute behaupte ich, dass die Bildzeitung ihre Bilder schlicht von diesem Extrablatt abgekupfert hat.

Das Extrablatt enthielt schon alle wesentlichen Informationen. Nur eines stimmte nicht: Die Identität der Terroristen. Deren Namen wurden erst am Abend in der Pressekonferenz der Bundesanwaltschaft und des. Bundeskriminalamts bekanntgegeben.

Heiner R. Schmid leitete von 1975 bis 1985 die Redaktion des Singener Wochenblatts. Seine Bilder von der Festnahme der Terroristen Sonnenberg und Becker veränderten nicht nur den Tag des engagierten Journalisten... | Foto: swb-Bild: Heiner R. Schmid
  • Heiner R. Schmid leitete von 1975 bis 1985 die Redaktion des Singener Wochenblatts. Seine Bilder von der Festnahme der Terroristen Sonnenberg und Becker veränderten nicht nur den Tag des engagierten Journalisten...
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Zu diesem Zeitpunkt war die Kommunikationsfähigkeit der Wochenblatt-Mannschaft fast auf dem Nullpunkt. Alle waren genervt. Das Telefon abzunehmen erforderte Mut. Aus dem Hörer kamen die tollsten Angebote. Wir wussten gar nicht, wie viele Zeitungen, Zeitschriften und Agenturen es gibt. Spätestens seit diesem Zeitpunkt ist klar: Wer sich auf seine Leistungen konzentrieren muss, ist gut beraten, wenn er einen Manager, einen Agenten, einen Vermittler und Vermarkter beschäftigt.

Allerdings wurden wir mit diesem Problem, wenn's denn eines war, glänzend fertig. Die Vermarktung war rasch klar. Hans-Joachim Frese brachte das Kunststück fertig, je zwei Bilder des Ereignisses ARD und ZDF zu überlassen mit der Auflage, in den Nachrichten als Quelle immer auf das »Singener Wochenblatt« hinzuweisen. Mit tiefer Befriedigung schauten die Wochenblatt-Kämpen am Abend in die Röhre. Am späten Abend dann, zurück auf der ruhigen heimischen Höri, kam der Autor selbst dazu, die Beine hochzulegen und sich seine Sondersendung der ARD zu »seinem« Ereignis 'reinzuziehen - mit den eigenen Bildern und dem erhebenden Satz: »Diese Bilder wurden uns vom Singener Wochenblatt zur Verfügung gestellt.« Ging runter wie Öl.

Günter Sonnenberg wird gleich auf der Bahre abtransportiert. Das ist ein Bild mit Symbolcharakter im Jahr 1977, denn erstmals sieht man, dass der Terrorismus in diesem Land nicht obsiegen wird. Dahinter liegt Verena Becker schmerzverzerrt am Boden.
 | Foto: swb-Bild: Heiner R. Schmid
  • Günter Sonnenberg wird gleich auf der Bahre abtransportiert. Das ist ein Bild mit Symbolcharakter im Jahr 1977, denn erstmals sieht man, dass der Terrorismus in diesem Land nicht obsiegen wird. Dahinter liegt Verena Becker schmerzverzerrt am Boden.
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Inzwischen hatten die fleißigen Wochenblatt-Verteiler die Extrablätter unter die Leute gebracht, soweit sie ihnen nicht aus den Händen gerissen wurden. Redaktion, Verkauf, Verwaltung, Verleger - die ganze Wochenblatt-Truppe hatte noch Tage nach dieser Aktion ganz runde Schultern. So fest wurden wir beklopft. Um der Wahrheit die Ehre zu geben:
Die richtigen Fakten standen am Mitt¬woch in den Tageszeitungen und am Donnerstag im »Wochenblatt«. Gleichwohl war das Extrablatt wichtig und richtig, um die Bürger rasch zu informieren.

Die Hektik hielt noch die Woche über an. Schließlich musste jetzt akribisch aufgefieselt werden, was die beiden Terroristen nach Singen geführt hatte (der Wunsch nach einem Frühstück im Café Hanser gegenüber von Karstadt). Wer sie erkannt hatte (eine Bedienung, die ein phänomenales Personengedächtnis besitzen muss). Was der Schießerei und der Verhaftung vorausgegangen war (eine Flucht zu Fuß, die Kaperung des Autos eines Singeners, ein erster Schußwechsel an der großen Kastanie beim ehemaligen Gebrauchtwagen-Platz der Firma Emminger in der Freiheitstraße). Wie es den angeschossenen Terroristen geht (für Bilder aus dem Krankenhaus wurden horrende Summen geboten). Und schließlich: Der Katzenjammer in den Tageszeitungs-Redaktionen. Wie gesagt: Die Kollegen konnten überhaupt nichts dafür - und trotzdem wurde Hohn und Spott über sie ausgegossen. Die Mai-Woche hatte so schön begonnen. Mit dem Ereignissen vom 10. Mai war sie ab Dienstag völlig versaut. Glücklicherweise spielte dann auch das Wetter mit: Der strahlende Frühling verwandelte sich in Sudelwetter, der Stimmung angemessen. Der Alltag kehrte wieder ein. Und jetzt, 15 Jahre und ein paar Tage danach? Ehrlich gesagt, bereitete es heftige Mühe, aus alten Unterlagen noch die richtigen Daten hervorzukramen. Ein unvergesslicher Tag? Sicher, in mancher Hinsicht. Aber das Datum musste ich nachschlagen.

Heiner R. Schmid

Das Original der Seite finden Sie hier als PDF (15 MB).

Autor:

Oliver Fiedler aus Gottmadingen

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